Haus Salem 28
Aus dem Netz, für das Netz.
Autor mir nicht bekannt.
Haus Salem 28
Am Ende der Stunde befreite mich Schwester Roberta und ich durfte mein Anstaltskleid wieder anziehen. In der kurzen Pause zwischen der ersten und der zweiten Stunde drängelten meine Klassenkameradinnen um mich herum und wollten schauen. So etwas hatte es noch nicht gegeben in Haus Salem.
„Das sieht so was von super aus!“ rief Gudrun Reiter und warf den Kopf, dass ihre langen blonden Zöpfe schlackerten. „Das möchte ich auch einmal erleben. Tut es weh?“
„Nicht mehr sehr“, antwortete ich, „aber als es geschah, habe ich geheult. Die Näherei war echt schlimm. Aber viel schlimmer war die Angst, dass ich in Zukunft für immer zugenäht sein würde. Als Schwester Roberta verkündete, dass ich den Faden nur ein paar Tage tragen muss, war ich total erleichtert.“
Hannah trat an meine Seite. Sie legte den Arm um meine Schultern und drückte mich tröstend. Die zärtliche Berührung tat mir unendlich wohl.
„Für immer! Uff!“ sagte Gudrun. „Das wäre wirklich fürchterlich. Wo wir doch heute Mittag zum ersten Mal Ausgang haben.“ Sie schaute mich voller Mitgefühl an. „Du Arme. Dann hast du ja überhaupt nichts davon, wenn die Jungs dich gefangen nehmen.“
„Verflixt und zugenäht, kann man da nur sagen“, rief Roswitha Schindler. Alle lachten. Sogar ich.
Kaum hatte die zweite Stunde begonnen, knackte es im Lautsprecher über der Tür.
„Alle Zöglinge sofort in die Aula!“ befahl die Stimme von Schwester Antonia, unserer Schulleiterin.
Wir warfen uns beklommene Blicke zu. Eine Versammlung so kurz nach den Sommerferien konnte nur eines bedeuten: Kreuzwahl!
Schwester Roberta scheuchte uns in die Aula der Schule. Dort versammelten sich alle Schülerinnen.
„Jetzt wird es ernst, Mädchen“, sagte Roswitha Schindler leise, als sie die Trommel sah. In ihrer Stimme schwang nackte Angst mit.
Die Trommel war ein großes Ding aus durchsichtigem Plastik, in dem sich nummerierte Kugeln befanden. Es gab so viele Kugeln wie Schülerinnen in Haus Salem. Vor der Trommel stand ein großer Eimer, der mit einem Tuch zugedeckt war. Dort drinnen befanden sich die gleichen Kugeln wie in der Trommel. Der Reihe nach mussten wir unter das Tuch fassen und eine Kugel ziehen. Ich zog die Nummer 16. Nur die Schülerinnen, die bereits auserwählt waren, brauchten keine Kugel zu ziehen.
Wir Mädchen schauten uns mit einer unbestimmbaren Angst in den Augen an. Vorm Kreuz hatten wir alle zusammen eine Heidenangst. Das Kreuz war mit nichts zu vergleichen. Keine Behandlung kam an die Kreuzigung heran. Nichts war so furchtbar. Besonders die Mädchen der unteren Klassen waren von Furcht geschüttelt. Für sie stand besonders viel auf dem Spiel, denn es gab eine schreckliche Regel in Haus Salem: Wer einmal für die Kreuzigung auserwählt war, der musste bis zum Ende der Schulzeit jedes Jahr ans Kreuz. Ich schaute zu Sonja Röder hinüber. Sie war in der Fünften auserwählt worden und seitdem jedes Jahr ans Kreuz gegangen. Einfach unvorstellbar. Bei mir in der Klasse war es Agnes Manderscheidt, die in der Fünften erwählt worden war. Sie würde dieses Jahr zum dritten Mal gekreuzigt werden. Letztes Jahr war Miriam Schwarz ausgewählt worden.
Alle Mädchen, die bereits erwählt waren, stellten sich zu einem Grüppchen zusammen. Zum ersten Mal fiel mir auf, dass sie sich von uns anderen unterschieden. Da war ein Zug um ihren Mund, ein Ausdruck absoluter Furcht in ihren Augen, den man nur bei ihnen fand. Agnes aus meiner Klasse lehnte sich bei Sonja Röder an, und das ältere Mädchen umarmte sie tröstend und gab ihr einen Kuss auf die Wange.
Als alle Schülerinnen eine Kugel gezogen hatten, schaltete Schwester Antonia den Elektromotor an, der die große Trommel in Bewegung setzte. Die nummerierten Kugeln begannen, durcheinander zu purzeln. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch schaute ich zu. Innerlich betete ich zu Gott, dass ich nicht gezogen werden solle.
Zuerst wurde die Auserwählte aus der 5. Klasse gesucht. Nach einer Minute drückte Schwester Antonia auf einen Knopf am Bedienfeld der Trommel. Sie stoppte und unten fiel eine nummerierte Kugel heraus. Sie trug die Nummer 34.
„Ich“, rief Janina Brill. Sie trat vor und hielt ihre Kugel in die Höhe. Sie wirkte sehr gefasst, ließ sich nichts anmerken, aber ich sah, wie sie ihre Zehen unbewusst verkrallte und sie war blass geworden. Sie hatte Angst. Das war klar.
Die Trommel setzte sich in Bewegung, um ein Mädchen aus der 6. Klasse auszuwählen. Nummer 19. Tanja Dengel schrie auf. „Nein! Nein! Um Gottes Willen! Bitte nein!“ Sie fing an, laut zu weinen. Sie hatte die 19 gezogen. Ihre Klassenkameradinnen umringten sie und berührten sie tröstend, doch nichts konnte Tanja trösten. Sie weinte haltlos.
Nun waren wir von der Siebten dran. Die Trommel begann zu rotieren. Voller Angst starrten wir auf das durchsichtige Ding, in dem die nummerierten Kugeln durcheinander purzelten wie bei der Ziehung der Lottozahlen. Doch niemand wollte hier die richtigen Zahlen haben. Die Trommel hielt an. Eine Kugel plumpste heraus. Wir hielten den Atem an.
16.
Ungläubig starrte ich auf die Kugel. Ich verglich die Nummer mit der Nummer auf meiner Kugel, als hätte ich meine Nummer nicht richtig gelesen.
16.
Das konnte nicht sein. Bestimmt lag ein Irrtum vor. Ich hörte Tanjas lautes Weinen und Flehen, hörte ihre absolute Verzweiflung. Ich konnte nicht weinen. Mein Kopf war ganz leer. Eine Art Geräusch erklang in meinem Schädel, ein fast geräuschloses „Pffffff“, das alle anderen Töne in der Aula überdeckte und mich halb taub machte.
16.
Ich war gezogen. Ich war auserwählt. Ich würde gekreuzigt werden.
Der Schock war so enorm, dass ich nichts sagen konnte. Innerlich war ich vor Furcht zu Eis erstarrt. Nicht das! Bitte nicht das! Lasst mich zugenäht! Für immer! Peitscht mich aus! Täglich! Aber nicht das! Bitte nicht!
Schwester Antonia reckte den Hals: „Wer hat die Nummer 16, Mädchen?“
Ich begann unkontrolliert zu zittern.
16.
Ich! Ich hatte die unselige Nummer gezogen.
„Nummer 16!“ rief Schwester Antonia. „Vortreten!“
Ich trat vor. Meine Knie waren weich wie Butter. Ich hatte das Gefühl, jeden Moment umzukippen. Ich hielt meine Kugel hoch. Mein Mund sagte: „Ich.“ Ich hatte das Gefühl, neben mir selbst zu stehen. Bestimmt war alles ein Irrtum. Ein Ablesefehler. Die Nummer 6 war gezogen worden oder die Nummer 26. Oder ich hatte die Kugel mit der 11.
16.
Das stand auf meiner Kugel.
16.
Das stand auf der Kugel, die aus der Trommel geplumpst war.
Jemand trat zu mir und umarmte mich. Es war Janina Brill.
„Sigrid“, sagte sie leise. „Oh Sigrid, wir sind erwählt. Ich habe Angst.“
Wir hielten uns gegenseitig fest. Von der anderen Seite umarmte mich Hannah. Ich fühlte fast nichts. Das luftlose Geräusch zwischen meine Ohren schwoll zu lautem Tosen an. Eine grauenhafte Angst stieg in mir auf.
Bitte nicht! Bittebitte nicht!
16.
Ich war erwählt. Das war die grausame Wahrheit. Ich bekam nur noch am Rande mit, wie die Kandidatinnen der höheren Klassen ausgewählt wurden. In der achten Klasse fiel die Wahl auf Ludmilla Sick.
In der großen Pause umringten mich die Mädchen aus meiner Klasse auf dem Schulhof.
Gudrun Reiter umarmte mich tröstend. „Ach Gott Sigrid, es tut mir so leid für dich“, sagte sie und gab mir einen Kuss auf die Wange.
Agnes Manderscheidt kam zu mir, Agnes mit den grauen Augen und den dunkeln Haaren, Agnes mit dem altmodisch wirkenden Seitenscheitel. Zum ersten Mal sah ich sie mit ganz anderen Augen. Die Jahre zuvor hatte ich die jährliche Kreuzigung immer verdrängt wie alle anderen Mädchen auch. Man durfte nicht daran denken, sonst wurde man wahnsinnig vor Angst.
Miriam Schwarz kam hinzu, ihre wasserblauen Augen wirkten riesengroß in ihrem blassen Gesicht. Sie und Agnes umarmten mich. Ich war vor Furcht ganz zittrig. Wir umarmten uns und weinten. Hannah stand betroffen daneben. Sie war sichtlich geschockt.
„Das können die nicht machen“, sagte sie ein ums andere Mal. „Jesus Christus! Das geht doch nicht!“
„In Haus Salem geht alles“, sagte Judith Ecker. Ich sah die ungeheure Erleichterung in ihren Augen, sah sie auch in den Augen der anderen Mädchen. Sie hatten Mitleid mit mir und den anderen Auserwählten, aber vor allem waren sie heilfroh, davongekommen zu sein. Sie alle wünschten sich nur eines: Niemals erwählt zu werden.
Vom restlichen Unterricht an diesem Morgen bekam ich nicht sonderlich viel mit. Ich saß da mit pochendem Herzen und dieser grauenhaften Angst im Bauch. Es dauerte bis zum Mittagessen, bis ich mich einigermaßen unter Kontrolle hatte.
Beiß die Zähne zusammen, Sigrid, dachte ich bei mir. Du kommst nun einmal nicht drum herum. Nimm es, wie es kommt.
Aber das war schwer, schrecklich schwer.
Beim Mittagessen verkündete Schwester Antonia, dass wir nachmittags Ausgang haben würden. Wir durften alle miteinander hinaus in die Natur. Alle Mädchen jubelten. Ich schaute mich um. Selbst die auserwählten Mädchen freuten sich. Nur die frisch erwählten saßen stumm und gedrückt da, genau wie ich. Wir konnten uns nicht recht freuen.
Aber als es später nach draußen ging, schaffte ich es irgendwie, die Angst zu verdrängen, nicht mehr so intensiv an sie zu denken und freute mich an der Freiheit in der Natur. Die Kreuzigung stand nicht unmittelbar bevor. Es würden noch viele Tage vergehen. Und letzten Endes war es ja unvermeidlich. Egal wie viel Angst ich hatte, ich würde es erleiden. Warum also sollte ich mich unnötig madig machen. Zum Angsthaben war noch Zeit genug.
Zusammen mit Hannah, Dorothee, Miriam, Sarah und Iris lief ich durch die Wiesen zum Wäldchen. Der sandige Boden fühlte ich himmlisch unter den nackten Fußsohlen an. Wir begannen ein Lied zu singen. Es war Sommer und wir waren frei. Ja so konnte man das Leben genießen. Fort mit Angst und Furcht! Heute war heute, und nur das zählte!
Als wir die ersten Bäume erreichten, fielen von allen Seiten Jungs über uns her. Sie fuchtelten mit den Armen und brüllten wie Urweltaffen. Kreischend spritzten wir Mädchen auseinander und liefen davon. Ich hätte es beinahe geschafft zu entkommen, da packten mich kräftige Arme von hinten.
„Ich hab eine“, rief mein Fänger. „Helft mir!“
Ich wand mich und versuchte mich frei zu zappeln, aber schon waren mehrere Jungs da. Sie bogen mir die Arme auf den Rücken und fesselten meine Hände mit einem Seil zusammen.
Einer der Jungs trat vor mich. Er war vielleicht ein Jahr älter als ich. „Du bist unsere Gefangene“, verkündete er. „Wir können mit dir anstellen, was wir wollen.“
Denkste, dachte ich für mich. Du wirst Augen machen. Schau mir mal unter den Rock.
Ich stand still, den Körper hoch aufgerichtet und blickte ihn furchtlos an. Ich war ein Mädchen aus Haus Salem. Ich konnte alles aushalten. Was konnten diese Milchbubis schon Schlimmes mit mir anstellen?