Die Teetrinkerin
Ich berichte heute eine Geschichte, die mir am vergangenen Wochenende passiert ist. Wie immer ist auch diese eine wahre Begebenheit. Diesmal beginnt sie in einem Fernzug zwischen zwei Großstädten, spät in der Samstagnacht während eines späten Schneeeinbruchs im März. Ich bin auf dem Weg nach Hause und hatte die Zeit im Zug genutzt, um ein wenig Schlaf nachzuholen. Entsprechend bin ich ganz entspannt, als unsere Bahn endlich am Zielbahnhof einfährt. Natürlich mit etwas Verspätung. Das erfahre ich von einer Mitreisenden, mit der ich ins Gespräch komme, während wir auf den Ausstieg warten. Nur zehn Minuten zu spät – aber das genügt, ihr Anschlusszug in eine nahe Kleinstadt ist fort. Und selbstverständlich war es der letzte.
Meine Gesprächspartnerin ist schon ein reiferes Mädchen, vielleicht knapp 50 Jahre alt und mit vielen Lachfalten in ihrem braungebrannten Gesicht. Sie ist gekleidet wie eine Kreuzung von Trekking-Fan und Hippie, mit ihrer gelben Flatterhose, ihrem bunten Pulli und dem riesigen Wanderrucksack. Sie scheint nicht wirklich verärgert oder auch nur aufgeregt zu sein über die Aussicht, eine kalte Winternacht in der Großstadt zu verbringen. Sie fragt mich nach dem Weg zum Servicepoint und verschwindet in der Masse, als wir aus dem Zug steigen.
Mein Weg führt mich zufällig in die selbe Richtung, und so treffe ich meine Mitreisende wieder, wie sie etwas ratlos vor dem Service Point steht.
„Geschlossen!“, lacht sie mich an.
– „Oh je“, sage ich. „Was wollen Sie jetzt tun? Vielleicht gibt es doch noch eine Verbindung?“
„Nein, leider nicht. Ich werde mir wohl irgendwo die Nacht mit heißem Tee um die Ohren schlagen.“
– „Das klingt ja vielsprechend“, ätze ich. Ich bin stehengeblieben und beratschlage mit ihr, wo sie bleiben könnte bis zum Frühzug.
„Danke, dass du mir helfen willst. Ich heiße übrigens Gerda.“
– „Ich heiße A. Aber ich kann dich doch nicht die Nacht über in einer Bahnhofskneipe sitzen lassen. Heißen Tee habe ich auch zu Hause. Ist nicht weit von hier.“
„Hey, du lädst mich ein?“ Ihre braunen Augen blitzen amüsiert. „Okay, du bist nett. Warum eigentlich nicht?“