Lehrerin wird Lernende
Aufgeschlagen das Heft, offen gelegt ein Kreis, berührt von drei Tangenten. Darüber, aus der Dimension des Raumes kommend: das Lineal; durchsichtig, nicht gefärbt, mit Mittelschiene gegen Bruch verstärkt. An die Zentimeterskala gehalten ein Rotstift, bereit, einen Tangentenwinkel zu korrigieren.
Den Klang der Wohnungsglocke im Gehör schiebt zögerndes Aufstehen den Schreibtischstuhl zurück. Neugier, leicht verärgert, läuft durchs Zimmer, durch den Flur, greift zum Hörer für die Sprechanlage an der Haustür. Unwirsches ‚Hallo?‘ vermutet, ein angeblicher Student wolle Zeitschriften verkaufen oder eine Zeugin Jehovas ihre Wahrheit verkünden.
„Hier ist Régine d’Eifel. Ich will wegen des Vorfalls heute Vormittag mit Ihnen unter vier Augen sprechen.“
Die Stimme, die Sätze in der Hörmuschel führen fünf Stunden zurück, ins Gymnasium, in den Physiksaal: vor dem rechten Arm, der strikt gestreckt zur Saaltür weist, steht Régine, baumlang, oben Funkelblick; die Augenpaare der Klassenmeute lauern mit lüsterner Schadenfreude, verfolgen, wie die Gemaßregelte sich abwendet, ohne Hast die Tür erreicht, sie von außen schließt; sich entspannend sinkt der Arm, der die Oberhand behalten hat. Also passt die Absicht nicht, ‚Kein Bedarf‘ zu sagen, dennoch sträubt sich Unbehagen: es passe nicht, so gehe es nicht, sie hätte anrufen sollen, für solche Anliegen seien Schulpausen da.
„Ich werd’ Sie nicht unnötig aufhalten. Die Geschichte hat mich hergetrieben. Auf dem Motorroller, bei der Kälte.“
Gespräche aus dem Lehrerzimmer fallen ein, über die in Frankreich geborene (als Vollwaise bei ihren hiesigen Großeltern lebende) Régine, Dispute über ihr häufiges Auffallen, wobei die eigene Auffassung (die der Jüngsten im Kollegium) das Sicherregen der Kollegen meist für überzogen hielt. Ein ‚Wenn du’s kurz und bündig machst, meinetwegen‘ kommt dem jungen Eigenwillen unwillig entgegen. Unmut spitzt (niemand sieht’s) die Lippen, flunscht launisch wie ein Kind.
„Ich versteh’ schon. Kein Plauderstündchen. Darauf dürfen Sie sich verlassen.“
Hörer ein-, Sicherheitskette aushängen, an die Taste mit Schlüsselsymbol tippen: mechanisch (Marionetten artverwandt) reagiert die rechte Hand, liegt schon auf der Klinke, zieht die Tür zur Wohnung auf. Im Treppenhaus Liftgeräusche, summend, verstummend, Leere, nein, da: Weinrot ein Overall, wetterfest wattiert, unten schwarze Joggingschuhe, gelb gezackt verziert. Locker schwingen lange Arme, der linke mit dem Sturzhelm, weiß wie ein Gletscher, das Visierglas davor (Kreuzzug, Raubritter, Turnier verknüpft Vision mit dem Visier). Ins Helminnere gestopft: ein lichtblauer Wollschal und Stulpenhandschuhe, rabenschwarze Ledertatzen (kriecht ein Monster aus der Raumschiffluke? Senden ferne Sterne eine militärische Mission? Als Vorhut, als Späher? Zum Warnen, zum Drohen? Vielleicht als Verheißung?).
„Guten Tag.“
In der Sekunde, da ihre Sohlen den Schmutzvorleger benutzen, unterdrückt gewohntes Benehmen eine erste Regung, die Angelegenheit zwischen Tür und Angel zu regeln. Zur-Seite-treten lässt die ungebetene Besucherin über die Schwelle; doch das Schließen der Wohnungstür vermeidet, vermeintlich unauffällig, die Hand zu reichen. Die so nah noch Größere gibt sich, als bemerke sie es nicht, begibt sich zur Garderobe, stellt auf der Kommode, dem hellen Holz vorm Spiegel, den Sturzhelm schaukelnd ab: zehn Finger aus Leder wiegen sich (wachsen wie schwarze Gewächse aus der Eierschale einer Eiszeitechse). Erhoben überschaut das hoch stehende Haupt den Vorraum und unbefangen (wie soeben heimgekommen) steuert die Hereingeschneite zur geöffneten Zimmertür.
„Ihre gute Stube, stimmt’s?“
Wenn der Akt schnell über die Bühne soll, wieso nicht auf dem Flur, ohne lang zu fackeln? Erziehung wie gehabt, die so nicht fragt, statt dessen anständig ‚Bitte‘ sagt, sich in die gastgebende Rolle fügt, artig dem wolkig sich bauschenden Overall folgt (ins Schlepptau genommen, abgeführt), gleich noch zum Sitzen bitten wird. Nur sieht die Vorangehende nicht zurück (lässt forsch die Rücksicht hinter sich), durchquert das Wohnzimmer zum eichenschweren Schreibtisch hin, verhält den raschelnd raschen Schritt vor ihm, ragt (ein großer roter Vogel) dem Fenster zugewandt, schaut ins Freie und wendet sich, als sei sie angetan.
„Irre, die Aussicht bei Ihnen. Vor meiner Bude, o je. Hinterhof am Ostfriedhof, blätternder Verputz, lüftende Betten.“
Draußen trüber Januar, bunt nur das Lichtspiel von Autos und Ampeln, auf der Doppelkuppel der Frauenkirche noch Schnee. Die Tür mit einer Hand im Rücken zuschiebend, tröstet Höflichsein, so reizvoll sei der Anblick nicht, da gebe es andere. Doch rührt sich nun auch Ungeduld, lädt nicht zum Platznehmen ein, verzichtet darauf, in Schreibtischnähe zurückzukehren, wahrt Distanz zur hünenhaft Gewachsenen, erkundigt sich stehend, was sie zu sagen habe. Als die Gefragte wie zur Antwort die Linke in die Hüfte stemmt, tritt ihr Umriss scharf zu Tage, formt sich ihre Masse zu mächtiger Gestalt.
„Ich verlange, dass Sie sich entschuldigen. Auf der Stelle. Und in der nächsten Physikstunde, vor versammelter Klasse.“
Der Erwartung, die Gymnasiastin werde ihrerseits Bedauern bekunden, verschlägt es die Sprache. Nicht-gefasst-sein muss sich fassen, schlägt in Ärger um, erlaubt sich an die im Fensterlicht finster Erscheinende die Frage, ob sie sonst noch gesund sei.
„Ich ja. Aber Ihnen verschreib’ ich was gegen das zu hoch getragene Näschen. Einen Denkzettel, den vergessen Sie nie.“